«Alan Turings Ideen beeinflussen die Forschung noch immer»

Ende 2015 gegr¨¹ndet, f¨¹hrt das Turing Centre der ETH Z¨¹rich Forschende und Studierende aus Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften zusammen. Im Interview legen der Leiter Giovanni Sommaruga und die Co-Leiter Diane Proudfoot und Jack Copeland dar, wie das Zentrum die freie Grundlagenforschung anregt und was ?Kind-Maschinen? damit zu tun haben.

Vergr?sserte Ansicht: Giovanni Sommaruga, Leiter des Turing Centre Zurich (in der Mitte), und seine Co-Leiter aus Neuseeland, Diane Proudfoot und Jack Copeland. (Bild: ETH Zurich / Florian Meyer)
?Alan Turing ver?nderte die Welt?: Giovanni Sommaruga, Leiter des Turing Centre Zurich (in der Mitte), und seine Co-Leiter aus Neuseeland, Diane Proudfoot und Jack Copeland. (Bild: ETH Zurich / Florian Meyer)

Die Idee, ein Turing Centre in Z¨¹rich zu gr¨¹nden, entstand 2012. Damals traf Jack Copeland, Professor an der Universit?t Canterbury in Neuseeland und Spezialist f¨¹r mathematische Logik und Philosophie der Informatik, an einer internationalen Konferenz mit dem Titel ?Turing in der Diskussion? auf Giovanni Sommaruga, Dozent f¨¹r die Philosophie der formalen Wissenschaften an der ETH Z¨¹rich. 2014 nahm das Zentrum Form an, als Jack Copeland und seine Kollegin Diane Proudfoot, Vorsteherin der Philosophie an der Universit?t Canterbury, als Gastprofessoren vier Monate in Z¨¹rich verbrachten. 2015 schliesslich stimmte die Schulleitung der ETH Z¨¹rich zu, das Turing Centre Zurich (TCZ) im Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften einzurichten.

Frau Proudfoot, Herr Copeland, weshalb ist die ETH Z¨¹rich der ideale Ort f¨¹r das Turing Centre?
Diane Proudfoot
: Die ETH Z¨¹rich ist als Standort des Turing Centre besonders gut geeignet, weil sie sich ganz jener Art von innovativer theoretischer Forschung widmet, die Alan Turings eigene St?rke war - n?mlich die Art von Neugier getriebener Grundlagenforschung, die wir im Englischen ?blue skies research? nennen. Damit ist gemeint, dass Forschende nicht immer ein bestimmtes Ziel im Sinn haben, sondern die jeweils beste Idee verfolgen und auf diese Weise unerwartete Entdeckungen machen. Das ist genau, wie Turing vorging und wie dies Forschende der ETH noch immer tun. Zudem arbeiten ETH-Forschende genau in den Gebieten, die Turing revolutioniert hat. Deshalb ist die ETH Z¨¹rich, in der Mitte Europas, der perfekte Ort f¨¹r das Turing Centre.

Jack Copeland: Kommt hinzu, dass die ETH Z¨¹rich auch aus historischer Sicht ein h?chst passender Standort ist. 1936 publizierte Turing seinen ber¨¹hmten Artikel ?On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem?, der aus heutiger Sicht die moderne Computerwissenschaft begr¨¹ndete. Turings Artikel war in gewisser Hinsicht eine Antwort auf das tiefgr¨¹ndige Denken von Mathematikern, die in bedeutenden Universit?tsst?dten der deutschsprachigen Welt wie etwa G?ttingen, Wien und Z¨¹rich arbeiteten.

Pflegte Alan Turing selbst Beziehungen zur ETH Z¨¹rich?
Giovanni Sommaruga
: Es gibt einige Briefe von Alan Turing und Paul Bernays, der einst ein Mitarbeiter David Hilberts gewesen war. Hilbert war jener Mathematiker, der das Entscheidungsproblem als das Problem, ob f¨¹r die Allgemeing¨¹ltigkeit von Ausdr¨¹cken ein Entscheidungsverfahren angegeben werden kann, formuliert hatte. Bernays selbst war ein brillanter mathematischer Logiker und Philosoph der Mathematik und Logik an der ETH.

Jack Copeland: Turing verehrte Bernays Arbeit. Bernays sandte Turing eine ?usserst gr¨¹ndliche Kritik seines 1936er-Artikels. Als Folge davon ver?ffentlichte Turing 1937 eine Korrektur. So betrachtet ist das eine ziemlich bedeutsame Verbindung mit der ETH Z¨¹rich.

Abgesehen davon, dass er ein Pionier der Computerwissenschaft und der Philosophie der Informatik war, was hat Alan Turings Werk den Forschenden heute zu sagen?
Giovanni Sommaruga
: Turing war einer der aussergew?hnlichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts und fast so etwas wie ein Universalwissenschaftler. Sein Wissen war ?usserst vielseitig, und seine Ideen wirken sich bis heute auf viele Disziplinen aus - dazu geh?ren Mathematik, Computerwissenschaft, Informatik, K¨¹nstliche Intelligenz, Kognitionswissenschaft, Biologie und Philosophie.

Diane Proudfoot: Alan Turing hatte etliche wirklich brillante Ideen in ziemlich unterschiedlichen Gebieten, und diese Ideen unterschieden sich gew?hnlich sehr von den mehrheitlich vorherrschenden Ideen seiner Zeit. Seine Ideen beeinflussen noch immer die aktuelle und wahrscheinlich auch die k¨¹nftige Forschung.

Haben Sie ein Beispiel, wie Turings Ideen die aktuelle Forschung beeinflussen?
Diane Proudfoot
: Ein Beispiel aus der N?he betrifft die Universit?t Lausanne. Ein Physiker dort arbeitet in der Nanobiologie und seine Arbeit scheint eine Erweiterung von Turings Ideen zu sein.

Giovanni Sommaruga: 3-D Nanomuster in der Bio-Nanowelt sind ein Beispiel eines Ph?nomens, das man besser verstehen kann, wenn man auf Turings Ideen Bezug nimmt. In diesem Fall sind es seine morphogenetischen Gleichungen aus der theoretischen Biologie. Turing selbst konnte zu seiner Zeit von der modernen Nanotechnologie nat¨¹rlich nicht ann?hernd auch nur tr?umen. Deshalb untersuchen wir Turings Ideen nicht nur im historischen Kontext, sondern auch mit Blick auf die Auswirkungen, die seine Ideen heute haben. Einige Einsichten unserer Gruppe werden in diesem Jahr in den B¨¹chern ?Turing's Revolution: The Impact of His Ideas on Computability? und ?The Turing Guide? ver?ffentlicht.

Jack Copeland: Alan Turing war der erste, der die Idee untersuchte, dass man Computer aus k¨¹nstlichen Neuronen bilden k?nnte. Er schlug Computer nach dem Vorbild des menschlichen Hirns vor, weil sich so bis zu einem gewissen Ausmass die ?Verkabelung? zwischen den Neuronen der Grosshirnrinde nachahmen liesse. 1948 beschrieb er in einem Bericht mit dem Titel ?Intelligent Machinery? Beispiele von dem, was wir heute ?neuronale Netze? nennen. Turing selbst nannte seine neuronalen Netze ?A-type and B-type unorganized machines? ¨C er hatte es halt nicht so mit einer ?sexy? Terminologie. Heute gilt Turings 1948er-Bericht als das erste Manifest der ?K¨¹nstlichen Intelligenz? oder kurz KI, wie wir sie heute nennen. Nur wusste lange Zeit niemand, dass Turing auf dem Gebiet der neuronenartigen oder ?konnektionistischen? Aspekte der KI Pionierarbeit geleistet hatte, denn er arbeitete einfach zu seiner eigenen Genugtuung und war nicht allzu sehr daran interessiert, seine Ideen zu publizieren. Diese Unkenntnis ¨¹ber Turings wegweisende Arbeit zum neuronenartigen Rechnen endete, als Diane und ich unseren Artikel ?On Alan Turing¡¯s Anticipation of Connectionism? ver?ffentlichten. Dann wurde 2012 eine ?B-type unorganized machine? mittels Nanotechnologie verwirklicht.

Gibt es eine Verbindung zwischen Turings Ideen ¨¹ber neuronale Netze und k¨¹nstliche Intelligenz und der Forschung an der ETH Z¨¹rich?
Diane Proudfoot
: Auf eine Weise schon. In seinem 1948er-Paper ¨¹ber intelligente Maschinen nahm Turing an, dass m?glicherweise der beste Weg, k¨¹nstliche Intelligenz zu erzeugen, der sein k?nnte, einen Roboter zu bauen, der auf dieselbe Weise lernen w¨¹rde wie ein Kind. Das erscheint einfacher als zu versuchen, einen voll ausgebildeten und erwachsenen Geist nachzubilden. Turing nannte diese Roboter ?child machines?, also Kind-Maschinen. Seit den 1980er-Jahren versuchen Forschende zunehmend, genau dies zu tun - Maschinen zu bauen, die wie Kinder lernen. So auch Robotiker der ETH.

Jack Copeland: Ein anderes Beispiel sind Industrieroboter. Turings Konzept einer belehrbaren ?Kind-Maschine? spurt heute den Weg vor f¨¹r Roboter, die sicher mit Menschen in einer Fabrikhalle oder sonstwo interagieren.

Das ist ein interessanter Punkt. Die Sorge ist in letzter Zeit gewachsen, dass es Risiken gibt, wenn intelligente Roboter am Arbeitsplatz der Menschen teilnehmen. Dachte Turing auch dar¨¹ber nach?
Diane Proudfoot
: Einige Industrieroboter sind heute schon unglaublich hochentwickelt, ganz wie die Kind-Maschinen, die Turing beschrieb. Und ja, es stimmt, solche Roboter werden voraussichtlich die Menschen bei der Fliessbandarbeit ersetzen. Tats?chlich sprach Turing in den fr¨¹hen 1950er-Jahren am Radio ¨¹ber die m?glichen Risiken k¨¹nstlicher Intelligenz - ¨¹ber das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, ebenso wie ¨¹ber das Risiko, dass Menschen von intelligenten Maschinen ?verdr?ngt? werden k?nnten. Jedoch dachte er nicht, dass man sich deswegen grosse Sorgen machen m¨¹sste, oder dass, wenn doch, man viel dagegen unternehmen k?nnte. Er zog es vielmehr vor, sich ¨¹ber die Paranoia vor dem Zeitalter der Maschinen lustig zu machen. Es ist faszinierend, heute die gleiche Debatte zu erleben.

Mochte Turing die ?ffentlichkeit?
Diane Proudfoot
: Ich bin nicht einverstanden mit der Darstellung Turings als eines scheuen, isolierten Menschen, wie wir ihn im Spielfilm ?The Imitation Game? zu sehen bekamen. Turing war in einem gewissen Sinn isoliert, aber er war gewiss nicht scheu oder sozial ¨¹berfordert. In seinen Talksendungen am Radio kommunizierte er seine Ideen unverbl¨¹mt und zug?nglich. Und er war selbstbewusst. Als Turing zum Beispiel die Vorlesungen des einsch¨¹chternd wirkenden Philosophen Ludwig Wittgenstein ¨¹ber die Grundlagen der Mathematik besuchte, war er derjenige, der Wittgenstein echt herausforderte.

Zur¨¹ck zum Turing Centre Zurich. Welche Aktivit?ten schweben Ihnen vor?
Giovanni Sommaruga
: F¨¹r den Anfang regelm?ssige Forschungsseminare, j?hrliche ?Turing Lectures?, die an das Vorbild der erfolgreichen ?Bernays Lectures? der ETH ankn¨¹pfen, sowie eine Auswahl von Kursen f¨¹r Studierende. Zus?tzlich zu diesen Aktivit?ten haben wir vor, eine popul?re Vortragsreihe durchzuf¨¹hren, die sich mit den potenziellen Auswirkungen der Informationstechnologien auf die Gesellschaft befasst - und auch mit ethischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit Informationstechnologien stellen.

Diane Proudfoot: Das Turing Centre wird ein breites Lehr- und Forschungsprogramm haben, das verschiedene Aspekte von Turings Werk erforschen wird. Wir erwarten, dass das Zentrum interdisziplin?re Forschung hervorbringen wird, die ohne es nicht stattfinden w¨¹rde.

Wird das Turing Centre zur ?Critical Thinking?-Initiative der ETH Z¨¹rich beitragen?
Giovanni Sommaruga:
Ja, das Centre will sich an der ?Critical Thinking?-Initiative beteiligen. Kritisches Denken macht den Kern der Philosophie aus. Deshalb ist Philosophie ein Schl¨¹sselfach f¨¹r die ?Critical Thinking?-Initiative. Unsere Erfahrung, in Z¨¹rich genauso wie in Neuseeland, zeigt, dass Studierende der Natur- und Ingenieurwissenschaften in der Regel sehr positiv auf die Philosophie ansprechen. Sie schult sie im scharfsinnigen analytischen Denken und motiviert sie, die Grundlagen ihres Fachs zu reflektieren.

Vergr?sserte Ansicht: Turing-Statue in Bletchley Park: Alan Turing war einer der aussergewöhnlichsten Forscher des 20. Jahrhunderts. (Bild: Shaun Armstrong/mubsta)
Alan Turing war einer der aussergew?hnlichsten Forscher des 20. Jahrhunderts. Seine Ideen beeinflussen bis heute viele wissenschaftliche Disziplinen. (Bild: Shaun Armstrong/mubsta)

Das Turing Centre Zurich

Das Turing Centre an der ETH Zurich ist ein transdisziplin?res Lehr- und Forschungszentrum. Es f¨¹hrt Forschende und Studierende aus Mathematik, Computerwissenschaft, Biologie, Philosophie und anderen Forschungsgebieten der Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften zusammen. Das Zentrum richtet sich an Studierende und an Wissenschaftlerinnen. Seine Mitglieder stammen aus vier Departmenten der ETH Z¨¹rich und aus dem Collegium Helveticum. Hinzu kommen Mitglieder aus zwei Instituten der Universit?t Z¨¹rich.

Im Fr¨¹hjahr 2016 wird das Turing Centre zum Auftakt eine Serie von Forschungsseminaren mit f¨¹hrenden Wissenschaftlern der theoretischen Informatik durchf¨¹hren und dabei Grundsatzfragen des Fachgebiets ansprechen. Die Reihe der Forschungsseminare wird im Herbst 2016 weitergef¨¹hrt. Dar¨¹ber hinaus will das Turing Centre drei interdisziplin?re Kurse im Rahmen der ?Critical Thinking?-Initiative anbieten. 2017 werden die ?Zurich Turing Lectures? lanciert werden.

Weitere Informationen ¨¹ber das Turing Centre Zurich, seine Aktivit?ten in Lehre, Forschung, und Wissenschaftskommunikation, finden sich auf der Website des Zentrums: www.turing.ethz.ch.

Literatur

Giovanni Sommaruga & Thomas Strahm (eds.). Turing's Revolution: The Impact of His Ideas about Computability. Basel: Birkh?user, Springer International, 2016.

Jack Copeland, Diane Proudfoot, Jonathan Bowen, Robin Wilson, Mark Sprevak, and others. The Turing Guide. Oxford: Oxford University Press, 2016.

Jack Copeland & Diane Proudfoot. On Alan Turing¡¯s Anticipation of Connectionism. Synthese 108: 361-377.

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